Dem chinesischen Wort Krise 危机 auf der Spur
10.06.2020
Kennen Sie die Geschichte von der Hummel, die aus physikalischen Gründen gar nicht fliegen kann? Oder die verbreitete Annahme, dass wir durchschnittlich nur zehn Prozent unseres Gehirns nutzen? Das sind Mythen, die faszinieren.
So ging es mir mit dem chinesischen Wort »Krise«, das aus den Schriftzeichen »Gefahr« und »Chance« zusammengesetzt sein soll. Das ist scharfsinnig und ermutigend. Um das für meine Workshops nutzen zu können, forschte ich nach. Denn solche Begebenheiten fesseln mich solange, wie sie einer Prüfung standhalten können.
Lesen Sie nachfolgend, was ich dabei Interessantes feststellen konnte.
Oder begleiten Sie mich in meinem Video auf meiner Spurensuche:
Kalenderweisheiten
Immer wieder in den letzten Jahren stieß ich bei Vorträgen und in schlauen Kalendern auf diesen Juwel fernöstlicher Scharfsinnigkeit: das chinesische Wort »Krise« sei aus den Schriftzeichen »Gefahr« und »Chance« zusammengesetzt:
Krise = wēijī = 危 机
Das ist natürlich eine ermutigende und hoffnungstiftende Ansage:
Eine Krise birgt neben ihren Gefahren auch Chancen und Gelegenheiten für einen Neuanfang.
Als in 2020 die Covid-Pandemie ihren Lauf nahm, stolperte ich wieder darüber. Dieses Mal wollte ich es mir zu Eigen machen. Ich dachte so bei mir:
Das ist der perfekte Motivations-Appetizer! Ein positiver Aufheller, mit dem ich meinen frisch veröffentlichten Chancen-Workshop anmoderieren werde.
Also machte ich mich online auf die Socken und recherchierte. Ich fand heraus: es gibt da ein paar Varianten dieser Schriftzeichen. Aber welche ist denn nun korrekt?
Man hat davon ja schon gehört: da lässt sich jemand ein tiefgründiges chinesisches Schriftzeichen tätowieren, wonach sich herausstellt, dass nun »Klodeckel« auf dem Arm prangt.
Also bemühte ich chinesische Lexika und stellte fest, dass bei dem Wort »Krise« alles in Ordnung ist. Es gibt dafür eine traditionelle und vereinfachte, moderne Schreibweise:
危機 + 危机
Als Nächstes wollte ich ein, zwei Etagen tiefer graben:
was bedeutet das Wort und dessen Einzelteile ganz genau?
Und wer hat diese verborgene Weisheit in die Welt gebracht?
Also grub ich tiefer.
Ursprünge eines Mythos
Wenn man fünf Minuten gezielt nach der Quelle dieser Weisheit sucht, findet man erstaunlicherweise keine Verse von Buddha oder Laotse, sondern:
John F. Kennedy.
Jener nutzte nämlich diese Mutmach-Formel in 1959 in seinem Wahlkampf.
Er soll wörtlich gesagt haben:
Das Wort Krise setzt sich im Chinesischen aus zwei Schriftzeichen zusammen: das eine bedeutet Gefahr und das andere Gelegenheit. In einer Krise sei dir der Gefahr bewusst, aber erkenne die Gelegenheit.
Tatsächlich war aber nicht John Fitzgerald Kennedy der Entdecker oder gar Schöpfer dieser philosophischen Raffinesse (so denn diese überhaupt stimmte – was ich später noch ergründen sollte).
Nein: Zuvor war es Dorothy Thompson, eine berühmte US-Schriftstellerin und Journalistin, die 1940 in der Washington Post einen Artikel veröffentlichte, in dem sie diese Krise-Chance-Herleitung ganz ähnlich anführte. Und es war das erste Mal, dass diese Mutmach-Formel mit einem Schriftzeichen abgedruckt wurde – das erste Krise-Chance-Meme, sozusagen:
Die Journalistin setzte diese Herleitung ein, um ihren Gedanken eine positive Wendung, einen Hoffnungsschimmer zu geben. Kernthema Ihres Artikels war Hitlers Expansion in Mitteleuropa.
Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt: auch Miss Thompson bediente sich an Bestehendem. Die ersten auffindbaren Zitate und Übersetzungen zu diesem Wort sind von 1938 und führen zu christlichen Publizierungen englisch-sprachiger Prediger in China.
Egal, dachte ich mir:
Ob Kennedy oder kreative Missionare …
ist diese Übersetzung denn nun korrekt?
Das war ja anzunehmen, denn seit +80 Jahren wird dieses Meme fast unverändert zitiert. Da ich es ganz genau wissen wollte zückte ich mein Smartphone:
Die Rück-Übersetzung
Ja, ich nutzte ein paar Übersetzungs-Apps. Ich wollte mich vergewissern:
Wenn ich das gesamte Schriftzeichen ins Englische oder Deutsche übersetzte, erhielt ich »Krise« oder »kritisch«. Soweit, so gut.
Als ich das zweite Schriftzeichen abdeckte, erhielt ich für das erste einstimmig »Gefahr«.
Formidabile!
Doch bei der Übersetzung des zweiten Schriftzeichens spinnten meine Apps: sie spuckten nicht wie erwartet »Chance« oder »Gelegenheit« aus, sondern »Maschine«, »Webstuhl« und andere entfernte Begriffe.
Ich testete weitere Apps, mobil und am Computer, doch überall erhielt ich nur diese doch sehr überraschenden Übersetzungen.
Sofort spinnte ich mir schon eine etymologische Geschichte zusammen:
Der Webstuhl und später die Webmaschine … die könnten historisch in China für eine industrielle Revolution gestanden haben. Ja, für eine gute Gelegenheit, eine Chance. Könnte das sein?
Während ich mir das so zusammendachte, beschloss ich eines: ich muss mit Muttersprachler:innen Kontakt aufnehmen.
Mein Zeitkontingent, das ich mir eigentlich für diese Recherche vornahm – es sollte nicht länger als eine Stunde gehen – war längst geplatzt. Meine Neugierde, mein Interesse für Sprach- und Schriftentwicklung und mein Forschungsdrang gewannen den Kampf gegen meine Sanduhr (ja, wortwörtlich – zum Thema Digitalisierung und Analogisierung schreibe ich ein anderes Mal). Und so beschloss ich das Rätsel weiter zu verfolgen.
Zunächst rief ich Carvien an – eine liebe Freundin und Wahl-Badenerin, die in Hong Kong aufwuchs und des Chinesischen mächtig ist:
Was hinter 危 机 steckt
Ich erfuhr, dass dieser Mythos rund um »Krise« unter Chinesen ein alter Hut ist.
Und – ich greife vor – dass man dieses vermeintlich philosophische Glanzstück der chinesischen Schriftsprache kopfschüttelnd und genervt als falsch abweist.
…
Quellen
INHALTE
Über Chinesische Schriftzeichen, Wikipedia
Chinesisches Dictionary Yellowbridge
Essay von Victor H. Mair
Essay von Benjamin Zimmer
BILDER
Briefmarke von John F. Kennedy: Olga Popova / Shutterstock.com
Schriftzeichen und Transkription »WEI CHI (CRISIS)«: Dorothy Thompson / Washington Post
AVANTI
Neugierig geworden?
Benissimo – dann lernen wir uns doch kennen. Die Erst-Beratung ist natürlich kostenfrei, und den netten Austausch gibt’s immer dazu.
Matteo Sanfilippo
Branding Coach & Designer
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